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Neues Jahr, neue Jobs

Angeschrien, herabgewürdigt, ignoriert

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Mobbing durch den Chef kann Beschäftigte fertigmachen. Manchmal bleibt als letzte Möglichkeit nur ein Jobwechsel. Alexander Heinl/dpa-tmn

Eineinhalb Jahre Terror. So beschreibt Holger Wyrwa die Zeit, in der er von seiner neuen Chefin gemobbt wurde. Sie wollte, dass er eine Kollegin ausbootet. Er weigerte sich. Dann durfte er plötzlich keine Briefe mehr selbstständig unterschreiben, musste immer mehr Aufgaben weit unter seinen Fähigkeiten erledigen. Seine Arbeitszeiten wurden akribisch überprüft. Machte er Überstunden, weil er sonst seine Klienten nicht erreicht hätte, warf seine Vorgesetzte ihm ungerechtfertigte Mehrarbeit vor. Mal musste er 200 Adressen von Hand übertragen – absurd angesichts der Tatsache, dass so etwas bislang eine Schreibkraft erledigt hatte.„Sie wollte mich plattmachen“, sagt der Erziehungswissenschaftler und Psychotherapeut rückblickend. „Ich hatte keine Überlebenschance in der Behörde, in der ich damals gearbeitet habe.“ Zunächst versuchte er, im direkten Gespräch mit der mobbenden Chefin eine Lösung zu finden – vergeblich. Auch das Personalbüro konnte nicht helfen. „Ich stand allein mit dem Rücken zur Wand.“ Kollegen duckten sich aus Angst um ihre Position weg.

Wenn Chefs Mitarbeiter mobben, spricht man von Bossing


Wyrwa ist kein Einzelfall. Je nach Studie hat bis zu einem Viertel aller Arbeitnehmer bereits erlebt, wie es ist, am Arbeitsplatz fortlaufend schikaniert, übergangen oder ignoriert zu werden. Schon 2002 veröffentlichte die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin einen Mobbing-Report. Diesem Bericht zufolge geht in etwas mehr als der Hälfte der Fälle die Schikane vom Boss aus oder wird zumindest von ihm toleriert – oft ist daher von Bossing die Rede, wenn es speziell um Mobbing durch den Chef geht.

Systematische Kränkung

Es geht dabei nicht um einmalige Ereignisse wie einen Rüffel vom Vorgesetzten in einer Konferenz oder fachliche Meinungsverschiedenheiten, sondern um immer wieder neue seelische Verletzungen. Laut klassischer Definition ereignen sich diese Kränkungen mindestens einmal in der Woche und mindestens ein halbes Jahr lang, erläutert die Diplom-Psychologin Bärbel Wardetzki aus München.


Mit verheerenden Folgen für den Mitarbeiter: Anfangs fühlt der sich vielleicht nur in die Ecke gedrängt. Dann verliert er sein Selbstwertgefühl, seine Arbeitsqualität und -motivation leiden. Zum Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht gesellen sich im Laufe der Zeit womöglich Kopf- und Nackenschmerzen, Schlafstörungen und im schlimmsten Fall Depressionen, Angststörungen oder eine posttraumatische Belastungsstörung. „Wichtig ist, dass der Betroffene registriert: Hier läuft etwas Entwertendes“, sagt Wardetzki, die sich wie Holger Wyrwa in einem Buch mit dem Thema beschäftigt hat.

Und was kommt nach dieser Einsicht? „Je früher ich mir Hilfe hole, umso schneller kann ich mit dieser Beratung erkennen, was ich konstruktiv anders machen könnte“, erklärt sie. Etwa: Missversteht der Chef etwas in meinem Verhalten und mobbt mich deshalb? Oft stecke hinter Bossing nämlich die Führungsschwäche eines Chefs, der Angst hat, vom Mitarbeiter überflügelt zu werden.

Hilfe von außen suchen

Ein Problem am Bossing ist das Machtgefälle zwischen Mobber und Gemobbten: Denn der Vorgesetzte entscheidet eben in der Regel über Karriere und Gehalt des Mitarbeiters. Wardetzki teilt Wyrwas Ansicht, dass der Betriebsrat oder das Personalbüro nicht immer hilfreiche Adressen sind. Betroffene sollten es deshalb lieber außerhalb des Unternehmens versuchen: bei einer Mobbingopfer-Hotline, die fast jede Krankenkasse hat, bei einem Coach, bei einer Gewerkschaft, einem Arzt, Psychotherapeuten oder einer Selbsthilfegruppe. Das ändert unterm Strich zwar nicht die berufliche Situation. Aber es trage dazu bei, nicht im passiven Leid zu bleiben, sagt die Psychologin.

Denn das sollten vom Boss Gemobbte auf keinen Fall tun: „Oft halten die Leute zu lange aus, sie versuchen, sich anzupassen, und haben keinen Mut, wegzugehen“, sagt sie. Wyrwa rät zudem, dem mobbenden Chef gegenüber keinerlei Emotionen zu zeigen, weil dieser sich sonst als Gewinner fühle. Besser lässt man sich krankschreiben, erholt sich, gewinnt Abstand und denkt in Ruhe nach. Ist eine Versetzung möglich? Oder bietet sich doch ein Jobwechsel an?

Bossing rechtlich schwer greifbar

Wyrwa berät heute in seinem eigenen Institut in Herne unter anderem Mobbing-Betroffene. Viele Bossing-Opfer wenden sich in ihrer Not auch an Anwälte. Rechtlich ist das Thema allerdings kaum greifbar. „Es ist eine Vorgehensweise, die gezielt einen Menschen treffen, kränken, in seiner Persönlichkeit herabwürdigen soll“, sagt Nathalie Oberthür, Fachanwältin für Arbeitsrecht in Köln. Es gebe unterschiedliche Wahrnehmungen, was als Kränkung empfunden wird. Darum sei es vor Gericht extrem schwierig bis unmöglich nachzuweisen, dass psychische Beeinträchtigungen tatsächlich auf dem Verhalten des Chefs beruhen.

"Oft halten die Leute zu lange aus, sie versuchen, sich anzupassen, und haben keinen Mut, wegzugehen."

Bärbel Wardetzki,
Diplom-Psychologin

Oberthür rät daher in der Regel von einer Klage vor dem Arbeitsgericht ab. Sie bespricht mit ihren Mandanten vielmehr, ob das Arbeitsverhältnis noch zu retten ist oder ob sich die Situation mit einem Aufhebungsvertrag oder einer Abfindung klären lässt. Denn sie ist der Ansicht: „Sozial motivierte Geschichten kann man mit rechtlichen Mitteln nicht bereinigen.“

Im Gegenteil: Betroffene fühlten sich nach einem Verfahren seelisch noch verletzter, wenn ihre Klage als unbegründet abgewiesen wird, so Oberthür. Zwar könne das Bossing-Opfer ein Mobbing-Tagebuch führen. Der Anwalt der Gegenseite kann aber immer sagen: „Das haben Sie sich alles ausgedacht.“ Und genau das ist das Problem: Bossing ist nichts, was zwischen Aktendeckel passt.

Holger Wyrwa war psychisch robust genug, um sich von der damaligen Vorgesetzten nicht in Angststarre versetzen zu lassen. Am Ende ist er mit einer Abfindung gegangen und hat sich selbstständig gemacht.